Wochenende für Pflegekinder auf dem Bauernhof

Ein Bulle hat in der Melkkabine nichts verloren

„Nöööööön, nöööön.“ Mit konzentriertem Blick, die Hände fest um das Lenkrad geklammert, rast Jonathan über den Hof. „Voll Gas überholt“, ruft er und lenkt sein Kettcar geschickt an einem Mitstreiter vorbei. Jonathan ist eines von 18 Pflegekindern, die das Wochenende auf dem Schulbauernhof Künnemann in Versmold verbringen. Organisiert wird der Ausflug von der Jugendhilfe Bethel.

Frische Landluft, zwitschernde Vögel, weit und breit Natur – dann durchbricht etwas die Stille … „Schieß hier hin, ich steh frei!“, „Wann gibt’s Mittag?“, „Ich spiel nicht mehr mit…“, „Achtung, ich komme!“ Eine Horde Kinder tobt ausgelassen über den Hof der Familie Künnemann. Die 6- bis 13-jährigen Jungen und Mädchen verbringen ein Wochenende auf dem Bauernhof. Schnitzeljagd, Lagerfeuer mit Stockbrot und Wanderungen im Versmolder Bruch stehen auf dem Programm. Die nicht verplante Zeit fahren die Kinder Kettcar, spielen Fußball oder machen Gesellschaftsspiele.

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Elisabeth Künnemann erklärt (v.l.) Justin Rach und Jonathan Thelen im Beisein der Bethel-Mitarbeiter Jürgen Niggeweg und Klaus Närdemann, wie man die Kälber streichelt und putzt.

Die Kühe im nahe gelegenen Stall scheint das lebhafte Treiben auf dem Hof nicht aus der Ruhe zu bringen. Genüsslich mampfen sie ihr Heu. In einer kleinen Box sitzt der sechsjährige Gjemal im Stroh und streichelt sanft über den Kopf eines rotbunten Kalbes. „Heute Morgen ist ein neues Kalb geboren. Wir dürfen es uns angucken, aber wir müssen ganz vorsichtig sein, weil die Mama denkt, wir klauen ihr Kind“, flüstert er. „Ich wurde heute um halb sieben mit den Rufen ‚Das Kalb ist da‘ geweckt“, erzählt Eva Grünheid, Erzieherin der Jugendhilfe Bethel, lachend. Alle seien total aufgeregt gewesen und hätten sofort in den Stall gewollt, um das Neugeborene zu begrüßen.

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Betreuer Lucas Närdemann (l.) und Jonathan Thelen fühlen sich auf dem alten Traktor schon wie richtige Landwirte.

Kindgerechter Ort
Auf dem Hof Künnemann kuscheln die Kinder aber nicht nur mit den Tieren, sondern sie erleben auch, wie ein Bauernhof mit Milchkühen bewirtschaftet wird. Aus dem Kuhstall kommt plötzlich aufgebrachtes Stimmengewirr: „Boah, da ist ein Bulle drin, der darf da nicht rein!“ Grund für die Aufregung ist ein Bulle, der im Melkroboter steht. Einige Sekunden passiert nichts, dann öffnet sich die Kabinentür des automatischen Melksystems, und das Tier geht zurück in den Stall. „Da ist ein Laser, der guckt, ob das eine Kuh ist und ob die Milch hat, wenn nicht, geht die Tür wieder auf“, erklärt Gjemal.

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Justin Rach und Betreuerin Cindy Paulekat üben das Melken erst einmal an einer Holz-Kuh.

Der kleine Junge hat die Kühe besonders in sein Herz geschlossen. „Die sind schön weich, und die Milch schmeckt gut.“

„Die Kühe sind die Attraktion. Beim letzten Mal haben wir zwei Mädchen gar nicht mehr aus dem Stall gekriegt“, erinnert sich Eva Grünheid. Sie begleitet die Kinder mit drei weiteren Betreuern an diesem Wochenende. „Im vergangenen Jahr haben wir ein Wochenende auf dem Bauernhof zum ersten Mal ausprobiert“, sagt Klaus Närdemann, Erziehungsleiter der Jugendhilfe Bethel. Der Bauernhof in Versmold sei ein schöner, kindgerechter Ort und das Wochenende ein voller Erfolg gewesen.

Besondere Abwechslung
In diesem Jahr bietet Bethel zwei Wochenenden für Pflegekinder an. „Für die Kinder ist es eine besondere Abwechslung“, so der Pädagoge. Die drei Tage seien aber nicht nur als Erlebniswochenende für die Kinder gedacht, sondern auch als Entlastung für die Pflegefamilien. „Viele der Pflegekinder haben Entwicklungsbeeinträchtigungen“, erklärt Jürgen Niggeweg von der Jugendhilfe Bethel. Das Wochenende auf dem Bauernhof ermögliche den Kindern, etwas Anderes kennen zu lernen und die Pflegeeltern hätten ein paar Tage ganz für sich.

Die Kinder kommen aus problematischen Herkunftsfamilien. In den meisten Fällen hat sich das Jugendamt eingeschaltet. „Es ist schwierig, geeignete Pflegefamilien zu finden“, bedauert Jürgen Niggeweg. Die Jugendhilfe Bethel ist daher immer auf der Suche. „Momentan haben wir 70 Kinder in 48 Pflegefamilien“, berichtet er. Bei der Vermittlung werde genau geprüft, ob ein Kind zur zukünftigen Pflegefamilie passe. Geduldig und gelassen sollten Pflegeeltern sein. Wichtig sei auch die Bereitschaft, sich in Krisen Hilfe zu holen und anzunehmen.

Intensive Unterstützung
Bevor ein Kind in eine Pflegefamilie kommt, gibt es eine zwei- bis dreimonatige Vorbereitungszeit. Ob eine Familie kinderlos sei oder bereits Kinder habe, spiele bei der Vermittlung keine Rolle, erklärt Jürgen Niggeweg. „Das Pflegekind sollte dann das jüngste Kind sein.“ Bis zu zwei Pflegekinder könne eine Familie aufnehmen. Die Jugendhilfe Bethel unterstützt die Pflegefamilien auch nach der Vermittlung eines Kindes. Alle vier bis sechs Wochen finden Beratungen und Besuche statt.

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Das Betreuer-Team: (v.l.) Lucas Närdemann, Eva Grünheid, Cindy Paulekat und Ole Thomas.

Wer sich dafür interessiert, ein Pflegekind aufzunehmen, kann sich bei Klaus Närdemann unter
Tel. 0521 144-2418 melden.

– Christina Heitkämper –